ägyptische Gesellschaft: Die Stellung der Frau

ägyptische Gesellschaft: Die Stellung der Frau
ägyptische Gesellschaft: Die Stellung der Frau
 
Anders als die meisten Gesellschaften des antiken und noch des heutigen Mittelmeerraums war die altägyptische Gesellschaft keine Männergesellschaft; die Frauen traten auch in der Öffentlichkeit so auffallend in Erscheinung, dass ausländischen Beobachtern wie dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot die ägyptische Kultur als Frauenherrschaft und geradezu als verkehrte Welt erschien. Diese besondere Präsenz der Frau beruhte aber nicht auf einem Matriarchat, einer Gesellschaftsordnung, in der die Frau die Vorherrschaft hat, sondern auf drei Faktoren: der grundsätzlichen (wenn auch meist sicher nicht tatsächlichen) Gleichberechtigung der Frau, ihrer durch Abstammung und oft auch durch ein Amt hervorgehobenen gesellschaftlichen Stellung und schließlich auf ihren Rollen in einer aristokratischen Kultur der Muße, die andernorts meist eine fast ausschließlich männliche Angelegenheit war. Frauen genossen in Ägypten volle Rechtsfähigkeit, trugen Titel und nahmen in bedeutendem Umfang am Leben des Mannes teil. Die rechtliche Gleichstellung galt für alle Schichten; auch die Dienerin oder Sklavin war nicht schlechter gestellt als ihr männlicher Kollege. Die gesellschaftliche und kulturelle Rolle bezog sich natürlich nur auf die Oberschicht.
 
Die Heirat war weder ein Rechts- noch ein Festakt und hatte keine herausgehobene Bedeutung, die sie zum Thema von Wandmalereiein in Gräbern oder von literarischen Erzählungen hätte werden lassen. Rechtliche Regelungen für den Fall der Scheidung und Vermögensverfügung wurden erst in der Ehe getroffen, sodass die Scheidung ein Rechtsakt war und fallweise erheblich erschwert werden konnte. Die Einehe war weder religiös noch rechtlich vorgeschrieben, bildete aber den Regelfall aufgrund der gesellschaftlichen Gleichstellung, doch sicher auch der scheidungsrechtlichen Sicherung der Frau.
 
Unter den Rollen, die die Frau ausfüllte, war die der »Hausherrin« die wichtigste. Anders als unser Wort »Hausfrau« war die ägyptische Wendung »Herrin des Hauses« ein echter Titel und je nach Größe des zu verwaltenden »Hauses« mit bedeutenden Funktionen verbunden. Ein »Haus« der Mittel- und Oberschicht war ein Betrieb mit zahlreichen Angestellten. Wenn ein Dokument aus der 21. Dynastie keine Ausnahme darstellt, dann konnte die Frau eigenmächtige Verfügungen ihres Mannes - in diesem Fall die Entlassung eines Pächters - rückgängig machen, und der Mann hatte sich dieser Entscheidung zu fügen. Das Ideal der guten Hausfrau entsprach in allen Punkten den berühmten biblischen Versen im Buch der Sprüche (31, 10-31), die ein Loblied aus der Sicht des Mannes darstellen (und noch heute am jüdischen Sabbatabend gesungen werden).
 
Doch auch die besondere Sichtbarkeit und herausgehobene Stellung der Frau in der ägyptischen Gesellschaft bleibt immer auf den Mann bezogen. Es gibt so gut wie keine Zeugnisse, in denen ein Mann einmal in Begleitung seiner Frau als »ihr Gemahl« erscheint, dagegen kaum Ausnahmen von der Regel, dass eine Frau nur als »seine Gemahlin« auftritt. Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter darf somit nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frau dem Mann in anderer Weise zugehörte als er ihr.
 
Die auffallendste Form, in der die Frau in Texten und Darstellungen in Erscheinung tritt, ist ihre Rolle in der Mußekultur der gesellschaftlichen Elite. Dass diese Kultur so stark erotisch geprägt ist, mag nichts Besonderes sein, aber dass es die Ehefrau ist, die hier in der Rolle der Geliebten auftritt, hebt das ägyptische Rollenkonzept von anderen ab. Inbegriff dieser Muße ist, was der Ägypter »die Vogelsümpfe durchstreifen, das Herz vergessen lassen« nennt. Die Bilder zeigen ihn im Papyrusnachen, den Bumerang und den Speer schwingend, in Begleitung seiner Frau. »Das Herz vergessen lassen« oder »dem Herzen folgen« beschreibt auch die Vergnügungen des »Schönen Tages«, den der Mann mit seiner Frau beim festlichen Bankett verbringt. Bei solchen Anlässen wurden die Liebeslieder gesungen, in denen - wie im biblischen Hohelied - die Geliebte ebenso selbstständig handelnd und empfindend zu Wort kommt wie der Liebende. Musikantinnen und Tänzerinnen, kaum bekleidet, entzückten die männlichen wie die weiblichen Gäste.
 
Auch die ägyptische Körperkultur neigte zur Angleichung der beiden Geschlechter. Männer schminkten sich ebenso wie Frauen, beide Geschlechter trugen Schmuck und Perücken und kleideten sich in weiße, durchscheinende Leinengewänder.
 
Es gab aber für die Dame der Oberschicht Berufe, in denen sie nicht als Begleiterin, sondern selbstständig auftrat. Solche Frauenämter ergaben sich zwar nicht in der Bürokratie, aber am Hof und bei Tempeln. Dazu gehörten in erster Linie Priesterämter bei weiblichen Gottheiten und das Amt der »Sängerin des Amun«, das sich im Neuen Reich für die Damen der Gesellschaft entwickelte. Hofämter waren zum Beispiel das einer königlichen Haremsdame oder einer königlichen Amme.
 
Die Stellung der Königin ging erheblich über die heutiger »first ladies« hinaus. Ihre Rolle war in einem wichtigen Punkt sogar über die des Königs hinausgehoben: Nach offiziellem Dogma empfing sie den Thronfolger nicht von ihrem Gatten, sondern vom Reichsgott Amun selbst, der ihr - wie Zeus als Amphitryon der Alkmene - in Gestalt des Königs beiwohnte. Die Königin hatte daher einen besonderen Anteil an der Göttlichkeit des Königsamtes. Einige haben sich sogar selbst zum König krönen lassen und die Regierungsgeschäfte ausgeübt; die bekanntesten unter ihnen sind Hatschepsut und Kleopatra.
 
In der Spätzeit (ab dem 8. Jahrhundert v. Chr.) entsteht in Oberägypten eine Art Kirchenstaat in der Form einer Theokratie, einer Gottesherrschaft, die vom Gott Amun zusammen mit einer Prinzessin in der Rolle der Gottesgemahlin ausgeübt wird. Die Gottesgemahlin darf jedoch keine Ehe eingehen, und ihre Nachfolgerin wird durch Adoption bestimmt. So wird verhindert, dass sich in Theben eine Priesterdynastie bildet. Das Amt und seine Besetzung bleiben dem Königshaus unterstellt. Davon abgesehen, entwickelt sich in Theben für einige Jahrhunderte ein glanzvoller Hof mit einer Frau an der Spitze und einer Fülle von weiblichem Personal: Hofdamen, Beamtinnen, Sängerinnen und Priesterinnen. Zwar werden die weltlichen Geschäfte in Wirklichkeit vom obersten Verwalter der Gottesgemahlin wahrgenommen, aber die Bedeutung des weiblichen Elements in der thebanischen Gesellschaft des 8. bis 6. Jahrhunderts erfuhr noch einmal eine Steigerung gegenüber sonstigen Epochen der ägyptischen Geschichte.
 
Die ägyptische Götterwelt ist reich an Göttinnen, die als Modelle weiblicher Rollenkonzepte wirken. Allerdings ist hier einschränkend vorauszuschicken, dass die typisch ägyptische Tendenz zur Götterverschmelzung auf Seiten der Göttinnen noch wesentlich stärker ist als auf Seiten der Götter. Praktisch alle Göttinnen können einander gleichgesetzt werden. Trotzdem verbinden sich mit den bedeutenderen unter ihnen unverkennbare Wesenszüge. Diese sind bei Isis am stärksten ausgeprägt aufgrund der Rollen, die sie im wichtigsten ägyptischen Mythos, dem Osirismythos, spielt. Sie tritt dort als Schwestergattin des Osiris, als Mutter des Horuskindes und als Königinmutter des inthronisierten Horus auf. In Bezug auf Osiris, den erschlagenen Gott, ist sie die Witwe, deren Trauer und Treue den Tod zu überwinden und zu rächen vermag; daraus wächst ihr eine zentrale Rolle im Totenkult und Totenglauben zu. In Bezug auf das Horuskind ist sie das Modell der Mutter, die ihr Kind gegen alle Gefahren beschützt. Das sichert ihr eine zentrale Rolle in der Sphäre des Hauses, der Medizin und der Magie. Als Königinmutter schließlich ist sie die wichtigste Göttin des pharaonischen Königtums. Das Rollenbild der Hathor ist eingeschränkter; sie ist vor allem die Göttin der Liebe und der Schönheit. Die Griechen haben sie mit Aphrodite gleichgesetzt. Da in Ägypten die Erde männlich und der Himmel weiblich ist, gibt es eine Himmelsgöttin: Nut. Nut ist die Mutter der Sterne und wird als solche zur Mutter der Toten. Indem der Sarg zur Erscheinungsform der Nut gemacht wird, bedeutet die Sarglegung eine Rückkehr in den Mutterleib. Nut ist auch die Mutter des Sonnengottes, der allmorgendlich aus ihr geboren wird und sie allabendlich mit sich selbst schwängert, indem er durch ihren Mund in sie zurückkehrt. Dieser »Muttergattin« des Sonnengottes steht seine »Tochtergattin« Tefnut gegenüber, die löwengestaltige Göttin des Feuers. Sie verkörpert insbesondere Licht und Feuersglut der Sonne, mit denen der Gott die Weltherrschaft ausübt; daher ist sie auch die Uräusschlange, die er als Herrschaftszeichen an der Stirn trägt.
 
Alle diese Rollen verschmelzen in der Spätzeit in Neith. Auf sie zielt die Legende von dem »verschleierten Bild zu Sais«, dessen Inschrift durch die Überlieferung Plutarchs im Abendland berühmt wurde. Neith geht im Hellenismus in Isis auf. Isis wird zur Allgöttin, die die ganze Götterwelt in sich begreift, das »Höchste Wesen« in weiblicher Gestalt. Ihre Religion verbreitet sich in Konkurrenz zum Christentum und zur persischen Mithrasreligion im ganzen Mittelmeerraum und im Römischen Reich. So erlischt die pharaonische Kultur im Zeichen des Weiblichen.
 
Prof. Dr. Jan Assmann

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Frau — Ehefrau; Weib (derb); Gemahlin; bessere Hälfte; Gattin; Alte (derb); Ehegattin; Angetraute; Schachtel (derb …   Universal-Lexikon

  • Liste der Achämenidenherrscher — Das Perserreich um 500 v. Chr. Das Achämenidenreich (auch als Altpersisches Reich bezeichnet) war das erste persische Großreich, das sich im Verlauf der klassischen Antike über die Gebiete der heutigen Staaten Iran, Irak, Afghanistan, Usbekistan …   Deutsch Wikipedia

  • ägyptische Kultur — ägỵptische Kultur,   eine aus der Verschmelzung nordafrikanischer Nomaden mit vorderasiatischen Bauern hervorgegangene Kultur. Der Übergang aus vorgeschichtlichen Lebensformen zur Hochkultur vollzog sich schlagartig in wenigen Generationen.… …   Universal-Lexikon

  • Die Geschichte von Sinuhe — Sinuhe in Hieroglyphen Name …   Deutsch Wikipedia

  • Wer mit der Katze geeggt hat, weiß, wie sie zieht — Hauskatze im Größenvergleich zu einer Maus Die Hauskatze ist ein fleischfressendes, zu den Katzen gehörendes Säugetier. Sie stammt ursprünglich von der nordafrikanischen Wild oder Falbkatze Felis silvestris lybica ab und ist ein seit mindestens… …   Deutsch Wikipedia

  • Ägypten — Ägỵp|ten; s: arabischer Staat in Nordostafrika. * * * Ägỵpten,     Kurzinformation:   Fläche: 1 001 449 km2   Einwohner: (2000) 68,4 Mio.   Hauptstadt: Kairo   Amtssprache: Arabisch   Nationalfeiertage: 23 …   Universal-Lexikon

  • Geschichte der arabischen Sprache — Verbreitung der arabischen Sprache Die arabische Sprache ist heute die meist verbreitete Sprache der semitischen Sprachfamilie und eine der sechs offiziellen Sprachen der Vereinten Nationen. Arabisch wird heute von ca. 422 Millionen Menschen als… …   Deutsch Wikipedia

  • Geschichte der Freimaurerei — Meißener Porzellan von 1832 Freimaurer Meister und Geselle Inhaltsverzeichnis 1 Begriff 2 …   Deutsch Wikipedia

  • Kunstdienst der evangelischen Kirche — Der Kunstdienst (oder auch Kunst Dienst) ist eine mit den deutschen evangelischen Kirchen teils institutionell, teils locker verbundene Einrichtung von theologisch und kunsthistorisch ausgebildeten Fachleuten, die zur Herstellung, Betreuung und… …   Deutsch Wikipedia

  • Ägypten zur Zeit der Pharaonen —   Den Beginn ihrer Geschichte führten die Alten Ägypter auf die »Reichseinigung«, die »Vereinigung der Beiden Länder« (Ober und Unterägypten), zurück und schrieben diese Tat dem König Menes zu. Davor lag eine Zeit, in der die Götter als Könige… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”